Wer sich heute als Tourist für eine Reise in ein Land entschließt, in dem er aufgrund der Presseberichte erwartet, auf ungelöste interne Probleme zu stoßen, die ihn im Zielland möglicherweise am ungehinderten Reisen hindern könnten, wird als erstes auf die Internetseite des Auswärtigen Amtes gehen, um die dort veröffentlichten Reise – und Sicherheitshinweise für das jeweilige Land zu studieren.
Macht er dies vor einer Reise nach Aserbaidschan, findet er dort den Hinweis:
„Von Reisen in die Region Bergkarabach, sowie in die unmittelbar im Südwesten gelegenen, von armenischen Streitkräften besetzten Bezirke Agdam, Füsuli, Dschabrayil, Sangilan, Kubadli, Latschin und Kalbadschar, sowie in die auf aserbaidschanischer Seite der Waffenstillstandslinie (Kontaktlinie) angrenzenden Gebiete wird dringend abgeraten. Zwar finden derzeit keine akuten Kampfhandlungen an der Kontaktlinie statt.
Dennoch muss dort, sowie an der aserbaidschanischarmenischen Landesgrenze, einschließlich der aserbaidschanischen Autonomen Republik Nachitschewan und Armenien, mit Schusswechseln gerechnet werden“.
Das macht uns mit deutlichen Worten darauf aufmerksam, dass dort ein bis heute ungelöstes brisantes politisches Problem besteht, auf das man nur hin – und wieder durch aktuelle beunruhigende Pressemeldungen aufmerksam gemacht wird, das aber nun bereits seit fast einem Vierteljahrhundert massiv den Weltfrieden bedroht.
Vierundzwanzig Jahre sind vergangen, seit der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in fünf verschiedenen Resolutionen auf die brisante Situation in diesem Gebiet aufmerksam gemacht hat und nachdrücklich auf die Missstände an dieser völkerrechtlich nicht anerkannten Grenze hingewiesen hat.
In der Resolution 822 vom 30. April 1993 äußert er seine „ernste Besorgnis über die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Republik Armenien und der Republik Aserbaidschan. Dabei spricht der Sicherheitsrat explizit die Invasion lokaler armenischer Streitkräfte im Bezirk Kelbadjar an, die die Vertreibung einer großen Zahl von Zivilisten nach sich zog und zu einem humanitären Notstand führte (so der Sicherheitsrat).
Er fordert ferner „die sofortige Beendigung aller Feindseligkeiten und feindseligen Handlungen“...“sowie den sofortigen Rückzug aller Besatzungsmächte aus dem Bezirk Kelbadjar und anderen der vor kurzem besetzten Gebiete Aserbaidschans“
Ferner „fordert der Sicherheitsrat die betroffenen Parteien sofort auf, die Verhandlungen über die Beilegung des Konflikts im Rahmen des Friedensprozesses der Minsk-Fraktion der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fortzusetzen und jegliche Maßnahmen zu unterlassen, die eine friedliche Lösung des Problems behindern“.
Die Resolution 822 endet mit dem Aufruf, ungehinderten Zugang für die internationale humanitäre Hilfe zu gewähren um „das Leiden der Zivilbevölkerung zu lindern“. Alle Parteien werden auf die Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet.
Der Generalsekretär wird in Absprache mit dem Amtierenden Vorsitzenden der KZSE sowie dem Vorsitzenden der Minsk-Fraktion der Konferenz zur Bewertung der Lage in der Region ersucht, dem Rat (Sicherheitsrat) einen weiteren Bericht vorzulegen.
Auf seiner 3259. Sitzung verabschiedet der Sicherheitsrat im Juli 1993 die Resolution 853.
Mit der Bekräftigung der Forderungen aus der vorausgegangenen Resolution 822 vom April nach Kenntnisnahme des Berichts des Vorsitzenden der MinskGruppe der KSZE am 27. Juli 1993 begrüßt der Sicherheitsrat, das die Parteien den Zeitplan akzeptieren, der dringende Schritte zur Umsetzung der Forderungen aus der Resolution 822 vorsieht.
Gleichzeitig gibt er aber auch der Sorge über die erneute Eskalation Ausdruck und verurteilt die Annexion des Bezirks Agdam der Aserbaidschanischen Republik und die damit verbundene Vertreibung einer großen Zahl von Zivilpersonen und die dadurch entstandene humanitäre Notlage.
Der Sicherheitsrat verurteilt auch die Bombenangriffe auf bewohnte Gebiete und fordert die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten und den bedingungslosen Rückzug der Besatzungsmächte aus dem Bezirk Agdam und den kürzlich besetzten Gebieten auf aserbaidschanischem Territorium.
Er schließt mit der Forderung nach Wiederherstellung der wirtschaftlichen Infrastruktur des besetzten Gebiets.
Die Regierung der Republik Armenien wird nachdrücklich aufgefordert Einfluss auf die Einhaltung der Forderungen aus den Resolutionen durch die Armenier in Berg-Karabach zu nehmen.
Der Sicherheitsrat fordert die Staaten auf die Waffenund Munitionslieferungen einzustellen, die geeignet sind, den Konflikt zu verschärfen.
Er fordert ferner den ungehinderten Zugang der internationalen humanitären Hilfe in das Konfliktgebiet. Die Resolution schließt mit der Entscheidung in dieser Angelegenheit aktiv zu bleiben.
Auf seiner 3292. Sitzung am 14. Oktober 1993 beschließt der Sicherheitsrat die Resolution 874 und reagiert damit auf das Schreiben des Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der KSZE vom 1. Oktober 1993 über Nagorny-Karabach, dass der an den Vorsitzenden des Sicherheitsrates gerichtet hat.
In diesem Schreiben gibt dieser seiner Besorgnis Ausdruck, dass die Fortsetzung des Konfliktes in der Region Nagorny-Karabach der Aserbaidschanischen Republik und die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan den Frieden und die Sicherheit in dieser Region gefährden würden. Der Sicherheitsrat nimmt Kenntnis von dem Treffen auf hoher Ebene am 8. Oktober 1993 in Moskau und „gibt der Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche zur Verbesserung der Situation und zur friedlichen Belegung des Konfliktes beitragen werden“. Noch einmal wird in dieser Resolution die Souveränität und die territoriale Integrität der Aserbaidschanischen Republik und aller Staaten in der Region bekräftigt.
Die Resolution verschweigt auch nicht „das menschliche Leiden, das der Konflikt verursacht hat“ und die humanitäre Notlage aufgrund der Vertreibung der großen Zahl (aserbaidschanischer) Zivilisten.
Der Sicherheitsrat empfiehlt, den (angepassten) Zeitplan der Minsk-Gruppe der am 28. September 1993 vom Vorsitzenden und neun weiteren Mitgliedern den betroffenen Parteien vorgelegt wurde, zu akzeptieren.
Er ist der Überzeugung, das alle darin nicht angesprochenen Fragen innerhalb des KSZE-Minsk-Verfahrens friedlich gelöst werden können. Er fordert die “sofortige Umsetzung der gegenseitigen und dringenden Schritte, die im Zeitplan der KSZE-Minsk-Gruppe vorgesehen sind“, darunter vor allem den Rückzug der Truppen aus den kürzlich besetzten Gebieten und die Beseitigung aller Hindernisse für Transport und Kommunikation. Die Resolution gipfelt in der Forderung an alle Parteien jegliche Verletzungen des Völkerrechts zu unterlassen und den ungehinderten Zugang der internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen in alle von dem Konflikt betroffenen Gebiete zu gewährleisten.
Gleichzeitig ergeht die Forderung an alle Staaten der Region „von irgendwelchen feindlichen Handlungen und jeglichen Eingriffen oder Interventionen Abstand zu nehmen, die zur Ausweitung des Konflikts führen und Frieden und Sicherheit in der Region unterminieren würden“
Es vergeht nur knapp ein Monat bis der Sicherheitsrat erneut das Thema Berg-Karabach auf der Tagesordnung hat.
Am 12. November 1993 nimmt der Sicherheitsrat in seiner 3313. Sitzung die Resolution 884 an.
Nach der üblichen Bekräftigung der vorausgegangenen Resolutionen nimmt er Kenntnis vom Schreiben ( 9. November 1993) des amtierenden Vorsitzenden der Minsker Konferenz über Berg-Karabach, dass der an den Präsidenten des Sicherheitsrates gerichtet hat.
Darin drückt dieser seine Besorgnis darüber aus, dass der Waffenstillstand erneut durch Armenier verletzt wurde und weist besonders auf die Bombardierungen der Zivilbevölkerung und die Gewaltexzesse bei der Besetzung des aserbaidschanischen Bezirks Zängilan und der Stadt Horadiz hin. Er geht auch auf die humanitäre Notsituation ein, die durch die Vertreibung einer großen Zahl von Zivilisten aus dem Bezirk Zängilan und der Stadt Horadiz entstanden ist. Die Regierung von Armenien wird aufgefordert, ihren Einfluss auf die in der Aserbaidschanischen Republik kämpfenden Armenier geltend zu machen und zu verhindern, „dass die beteiligten Kräfte sich nicht mit den Mitteln versehen, um ihren Feldzug auszuweiten.“
Die Resolution enthält auch die Aufforderung an den Generalsekretär und an die zuständigen internationalen Behörden „der betroffenen Zivilbevölkerung dringende humanitäre Hilfe zu leisten“ und nennt ausdrücklich den aserbaidschanischen Bezirk Zängilan und die Stadt Horadiz.
Die Resolution schließt mit der Forderung an den Generalsekretär, an den stellvertretenden Vorsitzenden der KSZE und an den Vorsitzenden der KSZE-MinskKonferenz „weiterhin über den Fortgang des Minsk-Prozesses und über alle Aspekte der Situation vor Ort zu berichten, insbesondere über die Umsetzung der einschlägigen Entschließungen“
Was haben nun all diese Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen tatsächlich im Krisengebiet bewirkt?
Beginnen möchte ich mit dem Hintergrundereignis, das der ersten dieser Resolutionen zugrunde liegt: dem Überfall der armenischen Freischärler auf große Teile Berg-Karabachs – auf das aserbaidschanische Gebiet außerhalb der zuvor umstrittenen Region.
Betroffen war davon die Stadt Ağdam. Daraufhin wurde von den Aserbaidschanern von Schuscha aus das Gebiet und die Stadt Stepanakert (Kankendi) unter Beschuss genommen. Es war trotzdem nicht zu verhindern, das Schuscha als letzte von den Aserbaidschanern gehaltene Bastion in Berg-Karabach am 8. und 9. Mai 1992 durch armenische Verbände eingenommen wurde. Nach ihrem Erfolg gründeten die Milizen eine „Karabachische Armee“, diese nahm wenig später die an der Verbindungsstraße zwischen Armenien und Berg-Karabach gelegene und daher militärisch wichtige Stadt Latschın ein.
Die Antwort der aserbaidschanischen Armee war ein Angriff auf den nördlichen Teil Berg-Karabachs von Goranboy aus. Dann kam der Winter und die Kämpfe mussten wegen der schlechten Versorgungslage ruhen.
Im März 1993 besetzte die armenische Armee unterstützt durch die „Karabachische Armee“ den Rayon Kalbadjar und danach in mehreren Offensiven zwischen April und August 1993 die Bezirke Aǧdam, Cabrayıl, Füzuli und Gubadly und schließlich im Oktober den Bezirk Zängilan.
Alle diese widerrechtlich annektierten Gebiete lagen außerhalb des früheren autonomen Gebiets der Republik Aserbaidschan Berg-Karabach.
Dann trat am 12. Mai 1994 das Waffenstillstandsabkommen in Kraft. Die Toten dieses Eroberungskrieges lassen sich nur schätzen, es waren zwischen 25.000 und 50.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, die ihr Leben lassen mussten.
Hinzu kamen über 1,1 Millionen Menschen, die aus ihrer über Jahrhunderte angestammten Heimat vertrieben wurden.
Die in den oben zitierten Resolutionen genannte Minsker Gruppe der KSZE war im März 1992 gegründet worden. Ihr gehörten insgesamt 13 Staaten an.
Es gelang dieser Gruppe jedoch nicht in dem Konflikt zu vermitteln.
Die Resolutionen der Vereinten Nationen 822, 853, 874 und 884 verpufften, einzige Folge war, dass die Türkei aus der Solidarität mit Aserbaidschan im September 1993 Konsequenzen gegenüber Armenien zeigte, die diplomatischen Beziehungen abbrach und die Grenzen zu Armenien schloss. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Alle anderen Staaten, insbesondere der Minsk-Gruppe unterzogen ihre Außenpolitik gegenüber dem Aggressor keinerlei Überprüfung.
So ist diese offene Wunde eine ständige Bedrohung für den Weltfrieden.
In den immer wieder aufflammenden Feindseligkeiten zwischen den Waffenstillstands-Parteien bilden die Vermittlungsversuche des seinerzeitigen russischen Präsidenten Medwedew eine rühmliche Ausnahme.
Er ging sogar soweit, Russland als Garantiemacht für die Einhaltung eines Kompromisses anzubieten. 2011 wurden die Gespräche erfolglos abgebrochen.
Im Juli 2014 und im April 2016 kam es erneut zu Gefechten an der Waffenstillstands-Linie. Wieder war es einzig Russland, das sich in dem Konflikt verantwortlich fühlte: der russische Außenminister Schoigu griff zum Telefon und forderte seine Amtskollegen in Aserbaidschan und in Armenien zur De-Eskalierung des Konfliktes auf. Aber auch ein Sprecher der KSZE „äußerte seine Besorgnis“. Und ein „Verbündeter“ trat auf: der türkische Präsident Edoǧan sicherte Aserbaidschan seine „Unterstützung bis zu Ende“ zu.
Was immer dieser im restlichen Europa so ungeliebte Landesherr damit auch gemeint haben mag.
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